Achtung, Achtung: Wichtige Durchsage für alle Verschwörungstheoretiker, die daran glauben, dass die böse „Pharmaindustrie“ Krieg führt gegen die sanften Naturheilmittel und diese mit aller Macht unterdrücken und ausrotten will……
Unerhörtes ist nämlich passiert, und ausgerechnet die „Pharmazeutische Zeitung“ und die „Ärzte Zeitung“ berichten davon:
Nachdem Professor Josef Hecken, Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses, sich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ dafür ausgesprochen hat, Homöopathie als Kassenleistung wegen fehlender Evidenz zu verbieten, verteidigt ausgerechnet der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) die Homöopathie. BPI-Hauptgeschäftsführer Henning Fahrenkamp verlangt, auch in Zukunft Satzungsleistungen anzubieten. Es gebe zahlreiche Erkrankungen, bei denen homöopathische Arzneimittel eingesetzt werden können, schreibt der BPI. Auch der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) widerspricht Heckens Vorschlag. Ärzten, Apothekern und Patienten sollte eine möglichst große Vielfalt von Arzneimitteln zur Verfügung stehen, verlangt BAH-Geschäftsführer Elmar Kroth.
Quellen für die Stellungnahmen von BPI und BAH:
http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=64860
http://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/krankenkassen/article/918270/todesfaelle-krebszentrumhecken-watscht-homoeopathie-ab.html
Kommentar & Ergänzung:
Diese neue Situation fordert nun alle Verschwörungstheoretiker heraus, ihre Konstrukte und Konzepte so anzupassen, dass das bewährte Feindbild weiterhin intakt bleibt.
Hier kann nur angedeutet werden, in welche Richtung die Neuinterpretation gehen könnte: Es kann sich bei diesen Stellungnahmen von BPI und BAH eigentlich nur um eine Finte handeln. Der Feind will uns täuschen und in Sicherheit wiegen……
Jetzt aber im Ernst:
Der Vorfall zeigt exemplarisch, dass es die scharfe Trennung zwischen der „Pharmaindustrie“ und den Naturheilmittelherstellern so nicht gibt. Hersteller von Homöopathika und auch von Phytopharmaka sind bestens in die Verbände der Pharmaindustrie integriert, die ihre Interessen vertreten. In Deutschland sind das der BPI und der BAH.
Unabhängig davon, ob man die Homöopathie als spezifisch wirksam ansieht oder nicht, kann man an diesem Beispiel feststellen: Der „Pharmaindustrie“ geht es nicht um einen ideologischen Krieg gegen die Naturheilmittel. Ihr kommt es auch nicht darauf an, ob ein Präparat „chemisch“ oder „natürlich“, wirksam oder unwirksam ist. Entscheidend dürfte eher sein, ob sich ein Produkt mit angemessenem Gewinn unter dem Begriff Arzneimittel verkaufen lässt. Bewährt sich ein Naturheilmittel und erreicht es einen bedeutenden Marktanteil, wird die „Pharmaindustrie“ nicht einen geheimen Vernichtungsfeldzug starten, sondern in diesem Mark mit Konkurrenzprodukten aktiv werden (1) oder Naturheilmittel-Hersteller aufkaufen(2).
Beispiele für (1) sind:
– Die Firma Sandoz, eine Generika-Tochter von Novartis, die einen Ginkgo-Extrakt verkauft und mit Sanabronch einen Hustensirup auf der Basis von Efeublätter-Extrakt.
– Die Firma Viforpharma mit den Präparaten Faros (Weissdorn-Extrkt), Jarsin (Johanniskraut-Extrakt), Feminelle (Traubensilberkerzen-Extrakt), Hepa-S (Artischocken-Extrakt) und Colosan mite (Sterculia).
Beispiele für (2) sind:
– Die mehr als 100 Jahre alte Marke Abtei, die 1996 unter das Dach der SmithKlineBeecham kam, der heutigen GlaxoSmithKline, und 2012 von der Abtei OP Pharma GmbH übernommen wurde, einer Tochter der Omega Pharma, einem belgischen Pharmazieunternehmen.
– Die Baldriparan-Präparate – Beruhigungsmittel auf der Basis von Baldrian, Melisse und Hopfen – die zum Pharmakonzern Pfizer gehören.
– Die Kytta Beinwellsalbe, die schon vor längerem in den Pharmakonzern Merck integriert wurde.
– Die Phytopharmaka-Herstellerin Steigerwald, die 2013 von Bayer aufgekauft worden ist, eine freundliche Übernahme übrigens – die Besitzer wollten an Bayer verkaufen. Siehe dazu: Bayer übernimmt Phytopharmaka-Hersteller Steigerwald.
Daneben gibt es natürlich immer noch eine ganze Reihe von Naturheilmittel-Herstellern, die unabhängig unterwegs sind. In Deutschland zum Beispiel die Dr. Willmar Schwabe Gruppe in Karlsruhe oder Bionorica in Neumarkt, in der Schweiz die Firmen Zeller in Romanshorn oder Bioforce in Roggwil.
Ich habe diese Hintergründe hier aufgeführt um zu zeigen, dass die Verbindungen zwischen Naturheilmittel-Herstellern und der „Pharmaindustrie“ vielfältig sind und sich diese „Landschaft“ nicht so simpel in ein Schwarz-Weiss-Schema einteilen lässt, wie es von den Verschwörungstheoretikern gerne gepflegt wird.
Ich habe mich dabei auf die Phytopharmaka-Hersteller konzentriert, weil ich die besser kenne. Über die Besitzverhältnisse der Homöopathika-Hersteller weiss ich nicht so genau Bescheid.
Der Homöopathika-Hersteller Heel aber zum Beispiel ist eine Tochtergesellschaft der Delton-Gruppe, die zu 100% dem BMW-Grossaktionär Stefan Quandt gehört, ein Umfeld also, das je eigentlich nicht so recht zum sanft naturnahen Image passt. Heel finanzierte zudem zusammen mit der Deutschen Homöopathie-Union (DHU) und den Firmen Staufen Pharma, WALA Heilmittel, Weleda und Hevert einen Schreiber, der im Internet Kritiker komplementärmedizinischer Verfahren systematisch diffamierte, ein ausserordentlich rüdes Vorgehen, das man eher der bösen Pharmaindustrie zutrauen würde. Siehe dazu den Bericht der „Süddeutschen“:
Homöopathie-Lobby im Netz: Schmutzige Methoden der sanften Medizin
Auch hier: Der schlichte Gegensatz – da die sanften, selbstlosen, menschenfreundlichen Hersteller von Naturheilmitteln und Homöopathika, dort dagegen die bösen, ausschliesslich kommerzgetriebenen Pharmakonzerne – funktioniert einfach nicht.
Anstatt die „Welt“ schön und klar in die Guten und die Bösen einzuteilen wäre es sinnvoller, allen kritisch auf die Finger zu schauen – den Naturheilmittel-Herstellern genauso wie der „chemischen“ Pharmaindustrie.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterwanderungen in den Bergen / Kräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Psychiatrische Klinik, Palliative Care, Spital:
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
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